Das deutsche Parteiensystem, das sich lange durch im internationalen Vergleich sehr große Kontinuität ausgezeichnet hatte, und insbesondere die Koalitionsmuster, unterliegen in jüngster Zeit einem beschleunigten Wandel. Von besonderem Interesse ist das Verhältnis von FDP und Grünen, da beide Parteien Bestandteile der neuen, im Bund noch nicht erprobten, Koalitionsmodelle Ampel und Jamaika sind. Beide Parteien weisen wahlsoziologische Ähnlichkeiten, aber auch große Unterschiede auf, und pflegen bislang eine dezidierte Gegnerschaft.
Die vorliegende Arbeit zeichnet die programmatische Entwicklung beider Parteien in den letzten vier Jahrzehnten in der Form einer qualitativen Parteiprogrammanalyse nach. Parteiprogramme sind, auch wenn einige Einschränkungen zu beachten sind, eine hervorragende politikwissenschaftliche Analysequelle, sind sie doch eindeutig den jeweiligen Parteien zuzuordnen und werden regelmäßig, oft in einem identischen Kontext, erstellt. Ihre Aussagen können als Diskurs verstanden werden. Die Nachzeichnung des programmatischen Diskurses soll zunächst die Fragen nach Kontinuität und Wandel und nach programmatischer Nähe und Ferne im Zeitverlauf beantworten, und die Parteien dann, auf der Basis ihrer Programmatik, zu unterschiedlichen Zeitpunkten ideologisch charakterisieren. Die Analyse überprüft insbesondere das Selbstbild der FDP als gleichermaßen wirtschaftlich wie gesellschaftlich liberaler Kraft und die häufige Einordnung der Grünen als linksliberale Partei. Darauf aufbauend adressiert die Arbeit, in kritischer Überprüfung salienztheoretischer Annahmen die Fragen, inwieweit sich tatsächlich ein programmatischer Diskurs entspinnt, wie die beobachtete Programmdynamik näherungsweise erklärt werden kann, ob diese Entwicklung, wie oft angenommen, tatsächlich zentripetal verläuft (Theorem der abnehmenden programmatischen Unterscheidbarkeit). Besondere Aufmerksamkeit erfährt die Frage der programmatischen Grundlage der gegenwärtigen Segmentierungsmuster, die vor dem Hintergrund der erhöhten Volatilität unter Druck geraten sind. Der qualitative Charakter verspricht eine wertvolle Ergänzung der überwiegend quantitativ ausgerichteten Parteiprogrammforschung.
Die Untersuchung zeigt, dass die Programmdynamik Kontinuität und (überwiegend begrenzten) Wandel gleichermaßen aufweist. In der kurzfristigen Betrachtung dominiert Kontinuität, in der Langfristperspektive (teils grundlegender) Wandel. Die FDP wandelt sich im Beobachtungszeitraum von einer radikalliberalen Partei (mit anfangs noch deutlich sozialliberalen Anklängen) zu einer (phasenweise radikalen) wirtschaftsliberalen Partei, zuletzt jedoch mit Entwicklungstendenzen zurück zum Radikalliberalismus. Die Grünen hingegen beginnen als ökosozialistisch-libertäre Kraft, sind stellenweise eine ökosozialliberale Partei, und begeben sich in der jüngsten Vergangenheit wieder auf den Weg zurück in Richtung Ökosozialismus. Die Parteien entwickeln, aber nur punktuell, einen echten programmatischen Diskurs. Die programmatische Entwicklung weist stark auf die Bedeutung exogener Prozesse auf der Makroebene (Rahmenbedingungen, Paradigmen) als Erklärungsfaktor hin, aber auch auf die Relevanz endogener Entwicklungen (strategische Positionierung). Die Annahme zentripetaler Tendenzen im Sinne einer allgemeinen programmatischen Konvergenz ist angesichts der divergenten Positionen zu verneinen. Hingegen erscheinen die traditionellen Segmentierungsmuster, wonach FDP und Grüne und Bund nicht und in den Ländern nur selten miteinander koaliert haben, programmatisch durch die (besonders ökonomisch) entgegenstehenden Positionen gut fundiert. Mit einer Zunahme von Ampel- und Jamaikakoalitionen wäre somit nur dann zu rechnen, wenn diese von externen Umständen erzwungen würden (Erstarken der AfD), die gemeinsame Programmatik als Koalitionsbildungskriterium allgemein an Bedeutung verlöre (strategische Aufwertung der Ergänzungskoalition gegenüber der Schnittmengenkoalition) oder die programmatischen Unterschiede zwischen FDP und Grünen weniger relevant würden. Dies könnte durch einen allgemeinen Bedeutungsgewinn der gesellschaftlichen gegenüber der ökonomischen Konfliktdimension oder durch eine programmatische Neupositionierung der beiden Parteien ausgelöst werden, beispielsweise durch eine verstärkte punktuelle Übernahme sozialstaatsinterventionistischer Positionen durch die FDP bei zeitgleich zunehmend marktliberaler Positionierung der Grünen.
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Das deutsche Parteiensystem, das sich lange durch im internationalen Vergleich sehr große Kontinuität ausgezeichnet hatte, und insbesondere die Koalitionsmuster, unterliegen in jüngster Zeit einem beschleunigten Wandel. Von besonderem Interesse ist das Verhältnis von FDP und Grünen, da beide Parteien Bestandteile der neuen, im Bund noch nicht erprobten, Koalitionsmodelle Ampel und Jamaika sind. Beide Parteien weisen wahlsoziologische Ähnlichkeiten, aber auch große Unterschiede auf, und pflegen b...
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