1. Die Familie Tylenchorhynchidae (Eliava, 1964) Golden, 1971 (Ordnung: Tylenchida) umfaßt drei Unterfamilien und 15 Gattungen, wobei die Gattungen Tylenchorhynchus Cobb, 1913 und Merlinius Siddiqi, 1970 in der DDR am häufigsten auftreten.
2. Auf dem Territorium der DDR wurden bisher 24 Arten der Familie Tylenchorhynchidae gefunden. Davon konnten fünf Arten erstmalig in der DDR nachgewiesen werden. Diese sind Tylenchorhynchus parvus Allen, 1955, Scutylenchus rugosus (Siddiqi, 1963) Siddiqi, 1979, Nagelus obscurus (Allen, 1955) Powers, Baldwin und Bell, 1983, Merlinius microdorus (Garaert, 1966) Siddiqi, 1970 und Merlinius semicircularis n. sp.
3. Die Art der Merlinius semicircularis n. sp. wird beschrieben. Sie zeichnet sich aus, durch eine schwache Kopfsklerotisation, vier Seitenlinien auf dem Schwanzende und eine ungeringelte Schwanzspitze sowie durch die Anzahl der Schwanzringe, die unter 50 liegt. Die Art wurde in einem Boden aus dem Wurzelbereich von Wintergerste in der Nähe des Dorfes Biestow (südlich von Rostock) gefunden.
4. Für die Untersuchungen zur Biologie und Schadwirkung wurden die drei Arten Tylenchorhynchus dubius (Bütschli, 1873) Filipjev, 1936, Merlinius brevidens (Allen, 1955) Siddiqi, 1970 und Tylenchorhynchus maximus Allen, 1955 ausgewählt. Diese Wahl wird wie folgt begründet: T. dubius und M. brevidens sind die in Mitteleuropa am häufigsten vorkommenden Arten. Außerdem liegen einige Hinweise ihrer Schadwirkung auch gegenüber Getreide vor. Für T. maximus gibt es solche Hinweise zwar nicht, doch kommt diese Art ebenfalls sehr häufig vor, wobei sie besonders unter Gramineen (darunter auch Getreide) gefunden wurde. Die drei Arten werden ausführlieh beschrieben.
5. Versuche zur Vermehrung dieser Nematodenarten in vitro wurden an Weizen-, Roggen-, Gerste- und Tabak-Kallus durchgeführt. Mit Ausnahme von T. maximus an Weizen-Kallus, wo eine geringe Erhöhung der Ausgangspopulaton, ermittelt werden konnte, kam es nicht zur Vermehrung der Nematoden. Die Zielstellung, hohe Ausgangspopulationen für weitergehende Untersuchungen zu schaffen, wurde mit dieser Methode daher nicht erreicht.
6. Um für die Pathogenitätsversuche hohe und reine Populationsdichten verwenden zu können, erfolgte eine Vermehrung der Nematoden im gedämpften Boden an geeigneten Wirtspflanzen. Diese waren: Blumenkohl für T. dubius, Ackerbohne für M. brevidens und Wiesenrispe für T. maximus. Die höchste Populationsdichte erreichte M. brevidens mit 4346 Nematoden in 100 cm3 Boden , gefolgt von T. dubius mit 2322 Nematoden in 100 cm3 Boden und T. maximus mit 1266 Nematoden in 100 cm3 Boden. Es zeigte sich, daß der Vermehrungsfaktor bei geringer Ausgangsverseuchung größer ist als bei hohen Ausgangsverseuchungen.
7. Die für die Vermehrung verwendeten Wirtspflanzen reagierten auf den Nematodenbefall wie folgt: Der Blumenkohl zeigte eine schlechte Jugendentwicklung und die Blütenbildung setzte über einen Monat später ein als bei den Kontrollpflanzen. Die Wiesenrispe reagierte mit einer Wachstumshemmung und einer auf eine schlechte Ernährung hinweisende Hellfärbung der Blätter. Die Parasitierung der Ackerbohne hatte eine starke Verringerung der Wurzelmasse zur Folge.
8. Die Gefäßversuche zur Prüfung der Wirtseignung ergaben, daß sich die drei Arten besonders gut an Gramineen vermehren. Die beste Vermehrung erfolgte bei T. dubius an Mais und Ausdauerndem Weidelgras, bei M. brevidens an Hafer und Weizen und bei T. maximus an Roggen und Gerste. T. dubius scheint sich auch sehr gut an Brassicaceen zu vermehren. Keine Vermehrung war bei dieser Art an Zuckerrübe, bei M. brevidens ebenfalls an Zuckerrübe und bei T. maximus an Raps, Zuckerrübe, Rotklee, Ackerbohne und Erbse zu verzeichnen.
9. Die Untersuchungen zur Nahrungsaufnahme wurden mittels der Agar-Platten-Methode durchgeführt. Sie ergaben, daß alle drei Arten an den Wurzeln der Getreidearten Weizen, Gerste, Roggen und Hafer saugen. Dabei nehmen T. dubius und M. brevidens an den Adventivwurzeln, Seitenwurzeln und Wurzelhaaren, T. maximus aber nur an den Adventivwurzeln und Seitenwurzeln Nahrung auf. Während bei den Tylenchorhynchus-Arten häufig viele Tiere an einer Stelle (bevorzugt an den Wurzelspitzen) parasitierten, kam es bei M. brevidens nicht zu solchen Ansammlungen.
10. Die Parasitierung kann in drei Phasen unterteilt werden: 1. Anstechen der Zelle, 2. Speichelinjektion und 3. Saugtätigkeit. Diese Phasen dauerten bei den drei Nematodenarten unterschiedlich lange. Die Gesamtparasitierungszeit nahm bei T. maximus durchschnittlich etwa 40 Minuten, bei T. dubius etwa 10 Minuten und bei M. brevidens etwa 4 Minuten in Anspruch.
11. Die Saugtätigkeit an den Wurzelhaaren führte zur Einstellung des Zytoplasmastromes und zur Beendigung des Wachstums. Die konzentrierte Parasitierung der Tylenchorhynchus-Arten an einer Stelle der Wurzel hatte die Zerstörung der Rhizodermis zur Folge, und die Wurzel hörte auf zu wachsen. Die Seitenwurzelbildung wurde in einigen Fällen jedoch angeregt. Bei einem Befall der Wurzelspitzen durch T. maximus kam es häufig zur Krümmung der Wurzel, die sich bis zur Schlingenbildung vollziehen konnte, bevor die Wurzel ihr Wachstum einstellte. Eine allmähliche Wachstumseinstellung war auch bei der Parasitierung vieler Vertreter von M. brevidens an den letztgebildeten 2 cm der Wurzel festzustellen.
12. Während zur Vermehrung von T. dubius Männchen erforderlich sind, vermehrt sich T. maximus parthenogenetisch, und bei M. brevidens ist eine parthenogenetische Vermehrung vorherrschend.
13. Die Entwicklung der Nematoden von der Eiablage bis zum Schlupf der L2 nahm, bei Zimmertemperatur gemessen, bei T. dubius und M. brevidens acht Tage und bei T. maximus 11 Tage in Anspruch. Unter natürlichen Bedingungen im Boden dauert diese Entwicklung länger. Die Zeit, die für die Vollendung eines Entwicklungszyklus benötigt wurde, betrug im relativ kalten Frühjahr und Frühsommer 1984 bei T. maximus 83 bis über 118 Tage und bei M. brevidens 50 - 97 Tage. Es kann vermutet werden, daß die von SHARMA (1971) mit 40- 48 Tagen für T. dubius bei Raumtemperatur ermittelte Zeitspanne unter natürlichen Temperaturbedingungen im Freiland wesentlich überschritten wird.
14. Die Untersuchungen zur Schadwirkung am Getreide zeigten, daß die Wurzelmassen durch den Nematodenbefall z.T. stark reduziert werden (besonders bei Befall durch T. dubius). Im Hinblick auf den Ertrag verhielten sich die Getreidearten unterschiedlich. Es wurde deutlich, daß besonders der Weizen und in geringerem Umfange der Roggen durch die Nematoden geschädigt werden können. So verursachte T. dubius bei Winterweizen einen durchschnittlichen Ertragsverlust von 19,2 % und bei Sommerweizen von 24,4 %. T. maximus konnte den Sommerweizen schon bei einer relativ geringen Ausgangsverseuchung (252 Nematoden in 100 cm3) empfindlich schädigen (Ø 17,5 % Ertragsverlust), so daß bei einer höheren Bodenverseuchung mit einem noch größeren Ertragsverlust zu rechnen ist. Die Ertragsverluste bei Roggen betrugen bei einer Parasitierung durch T. dubius durchschnittlich 16,5 % und bei einer Parasitierung durch T. maximus durchschnittlich 12,7 %. Die durch M. brevidens verursachten Ertragsverluste waren geringer.
15. Die Ertragsverluste bei Weizen und Roggen sind in erster Linie auf eine Verringerung der Halmzahl zurückzuführen.
16. Bei den Getreidearten Gerste und Hafer war das Wurzelsystem z.T. stark geschädigt. Jedoch wirkte sich dieser Umstand nicht oder nur in geringem Maße negativ auf den Ertrag aus, was auf eine Art Kompensationsvermögen der Pflanzen zurückzuführen ist. So reagierten die Wintergerste und der Hafer bei einem Befall durch die Tylenchorhynchus-Arten, obwohl die Wurzelmassen stark herabgesetzt waren, mit einer Erhöhung der Bestockung. Im Extremfall trat bei der Parasitierung der Wintergerste durch T. maximus dadurch sogar eine signifikante Ertragssteigerung ein (Ø 22,8 %). Bei einem Befall durch M. brevidens zeigten diese Pflanzen das Vermögen, Wurzelschäden nicht ertragswirksam werden zu lassen, in geringerem Maße.
17. Ergebnisse, die 1983 bei den an Sommergerate durchgeführten Versuchen erzielt wurden, machen deutlich, daß bei Pflanzen, die unter normalen Bedingungen nicht mit Ertragsverlusten auf einen Nematodenbefall reagieren, unter ungünstigen Witterungsbedingungen (Vernässung des Bodens) durchaus hohe Verluste auftreten können (Ø 36,1 % bei Befall durch T. dubius). Es ist denkbar, daß die Prädisposition von Getreidepflanzen gegenüber Nematodenbefall auch durch andere Streßfaktoren erhöht werden kann.
18. Um Nematodenschäden am Getreide, hervorgerufen durch Vertreter der Familie Tylenchorbynchidae, in der landwirtschaftlichen Praxis zu verhindern, müssen die Nematodenpopulationen im Boden möglichst gering gehalten werden. Dieses ist bei einer entsprechenden Fruchtfolgegestaltung, einer guten Versorgung der Böden mit organischem Material und einer gezielten Bodenbearbeitung durchaus möglich. Die Bekämpfung der Nematoden könnte gegebenenfalls auch mittels Saatgutbehandlung mit systemischen Nematiziden vorgenommen werden; eine Resistenzzüchtung erscheint gegenwärtig wenig aussichtsreich.
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