Der Verlauf des tibialen Bohrkanals nach Vorderer-Kreuzband-Ersatzplastik (VKB-Ersatzplastik) mit dem mittleren Drittel der Patellarsehne und Interferenz-Schrauben-Fixation zeigt im Standard-Röntgen charakteristische Formveränderungen, deren zeitlicher Verlauf bisher nicht detailliert erfasst wurde. Ebenso können aus den bisher vorliegenden Daten zur Morphologie – auch in anderen OP-Techniken zum Ersatz des VKB keine sicheren Rückschlüsse auf die tatsächliche räumliche Ausdehnung des Bohrkanals geführt werden. In der hier vorliegenden Studien führten wir aus diesem Grund erstmals für eine VKB- Ersatzplastik differenzierte Messungen an CT Aufnahmen im gesamten tibialen Tunnelverlauf in unterschiedlichen Dimensionen (sagittal, coronar, axial) und in engmaschigen Zeitabständen durch.
Insgesamt wurden in diese Studie 34 Patienten mit vollständigem Studienprotokoll aufgenommen, welche die Einschlusskriterien zur Studie erfüllten. Alle erlitten eine isolierte Ruptur des VKB und wurden in gleicher Weise mittels Bone-Patellar-Tendon-Bone (BPTB) Implantat versorgt.
Die radiologische Diagnostik des betroffenen Kniegelenkes erfolgte mittels Computer-Tomographie des verletzten Kniegelenkes jeweils in der 1. postoperativen Woche, sowie 6 Wochen postoperativ und 3 Monate, 6-, 12- und 24 Monate postoperativ, ergänzend zu den klinischen Nachuntersuchungen. Die Messungen wurden in 5 Ebenen (Messebene E1 – E5) entlang des tibialen Tunnels in sagittaler und coronarer Ebene für jeden Patienten zu allen Untersuchungszeitpunkten durchgeführt. Ergänzend wurde die Lage des Bohrkanals und des Fixationsmoduls bestimmt, zusätzliche die freie Länge des Implantates, sowie die Ausrichtung der Bohrkanalebene in axialer Schichtung. Diese Daten wurden im zeitlichen Verlauf zu oben genannten Untersuchungsterminen dokumentiert.
Zusätzlich wurden alle Patienten klinisch nach 3 Monaten, 6 -, 12- und 24 Monaten nachuntersucht. Die standardisierte Untersuchung umfassten Messungen mit dem KT-1000 Arthrometer, sowie die manuelle Untersuchung des Kniegelenkes und funktionelle Tests. Die Ergebnisse sind mittels den gängigen Funktionsscores (International Knee Document Score: IKDC, Tegner Activity Score: TAS, Lysholm Score) erfasst worden. Auf diese Weise wurden auch die Daten aus der Patientenbefragung und - Anamnese zur subjektiven Kniefunktion bewertet.
Daraus ergab sich die exakte Beschreibung der Morphologie des tibialen Bohrkanales nach VKB Ersatz mit BPTB Implantat über einen Zeitraum von 24 Monaten.
Im Ergebnis konnte so gezeigt werden, dass sich bereits innerhalb der ersten 6 Wochen postoperativ eine charakteristische Formveränderung des tibialen Tunnels vollzieht, die bereits 3 Monate postoperativ weitgehend abgeschlossen ist. Alle Abschnitte des tibialen Bohrkanals weisen eine messbare Erweiterung auf. Die Erweiterung am Tunnelausgang in Höhe des Tibiaplateaus (E1) bleibt dabei deutlich geringer als die in den weiter distal gelegenen mittleren Abschnitten der Tunnellänge (E2 und E3). Hier liegt die maximale Tunnelerweiterung vor. Diese Formveränderung liegt, in unterschiedlichem Maß, in der gesamten dreidimensionalen Ausdehnung des Bohrkanals vor. Sie ist in sagittaler Ebene ausgeprägter als in der coronaren Ebene.
Unabhängig von speziellen Messungen kann sie plastisch im CT dargestellt werden. Die Vergrößerung des Durchmessers in E2 und E3 beträgt das 2,5-fache der Ausdehnung in E1 über die Zeit. Daher weist der tibiale Bohrkanal in Höhe der Ebenen E2 und E3 im zeitlichen Verlauf eine „bauchige“ Aussackung auf, die eine Ausdehnung um annähernd 50% der ursprünglichen Tunnelweite („Röhre“) in anteroposteriorer Richtung (Sagittalebene) und um ca. 30% in mediolateraler Richtung (Coronarebene) ausmacht. Zum Fixationsmodul (Knochenblock / Interferenzschraube) verjüngt sich der Tunnel dann (E4). Eine sehr geringe Ausdehnung der Bohrkanalweite über die Zeit liegt auch im Bereich des Fixationsmoduls vor (E 5). Sie beträgt etwa 1/3, bzw. 1/4 der Erweiterung in E2 und E3 zum Abschluss der Untersuchungen nach 24 Monaten. Eine vergleichsweise durchgeführte Standard- Röntgenuntersuchung erlaubt zum Zeitpunkt 6 Wochen und 3 Monate postoperativ keine vergleichbaren Rückschlüsse auf die tatsächliche Form des tibialen Bohrkanals.
Divergenzen im Verlauf der Bohrkanalachse oder Mikrobewegungen der Fixationsmodule finden sich nicht. Die Ausdehnung der Formveränderung hat bei allen Patienten eine charakteristische Richtung in axialer Ebene, die von der anteroposterioren und mediolateralen Achse durch die Tibiametaphyse abweicht. Korrelationen zwischen dem Maß der Erweiterung und den begleitenden Messungen zur Bohrkanallage haben sich nicht ergeben.
Die Auswertung der klinischen Ergebnisse ist vergleichbar mit anderen Studien zum VKB Ersatz und zeigt für alle Patienten gute bis sehr gute Ergebnisse. Eine Korrelation zur Formveränderung des tibialen Tunnels über die Zeit liegt nicht vor.
Die tibiale Tunnelerweiterung nach VKB-Ersatz ist aufgrund der vielschichtigen Messungen und der ausgewerteten Daten als ein multifaktorielles Geschehen zu sehen, das durch das Material des Implantates, die Methode der Fixation und das postoperative Rehabilitations-Protokoll beeinflusst wird. Wenn auch diese Studie die Ätiologie der Formveränderungen des tibialen Tunnels nicht umfassend belegen kann, so ergeben sich doch bisher im Detail nicht genau analysierte, neue Faktoren zur Morphologie:
In Bezug auf die zeitliche Achse der Morphologie handelt es sich bei der Bohrkanalerweiterung um einen sehr frühen Prozess, dessen Maximum bis 6 Wochen, bzw. 3 Monate postoperativ liegt. Dieser Zeitraum der maximalen Erweiterung deckt sich mit der temporär erhöhten „aggressiven“ Zusammensetzung der Synovialflüssigkeit.
Durch die hier angewendete Messmethode kann für den Ersatz des VKB mit BPTB-Implantat aus dem mittleren Drittel der Patellarsehne die spezielle Formveränderung („birnenförmig“) nachgewiesen werden. Diese Formveränderung ist 3-dimensional und überwiegt in anteroposteriorer Richtung. Sie beträgt in der größten Ausdehnung über 40% der initialen Tunnelweite. Ihre exzentrische Ausdehnung lässt Rückschlüsse auf eine besondere primäre mechanische Belastung zu. Eine „Instabilität“ für die Fixationsmodule besteht nicht, sie können als Faktoren für die Bohrkanalerweiterung abgelehnt werden.
Alle Ergebnisse sind hinweisend dafür, dass ein Zusammenspiel von überwiegend „aggressiven“ Bestandteilen der Synovialflüssigkeit unmittelbar postoperativ und forcierter Bewegung im Rahmen der initialen Übungstherapie eine größere Rolle spielt, als zunächst angenommen. Da zwischen den klinischen Untersuchungsergebnissen und der Morphologie der tibialen Bohrkanalerweiterung keine Korrelationen bestehen und die Ergebnisse für die Patienten im sportlichen Alltag gut bis sehr gut sind, erfordert es keine radikale Änderung des bisherigen Vorgehens. Die forcierte Rehabilitation führt also insgesamt zu einem sehr guten Ergebnis hinsichtlich Patienten-Zufriedenheit und Rückkehr zur sportlichen Aktivität.
Aus dieser Studie lässt sich ableiten, dass durch Veränderungen der operativen Vorgehensweise, wie der anatomischen Fixation der VKB-Ersatzplastik in Höhe der tibialen Insertion, die mechanischen Komponenten bei der Erweiterung des tibialen Bohrkanals reduziert und vor allem die biologischen Einfluss-Faktoren minimiert werden können. Für die femorale Insertion werden diese Prinzipien bereits angewendet.
Aufgrund der unterschiedlichen Ergebnisse für die Morphologie des tibialen Bohrkanals bei dem Vergleich von Messungen an Standard-Röntgenaufnahmen und CT Aufnahmen zum frühen Untersuchungszeitpunkt bis 6 Monate postoperativ leitet sich auch eine standardisierte Vorgehensweise bei Revisionseingriffen ab: Die Formveränderungen des Bohrkanals beeinflussen die Vorgehensweise beim Revisionseingriff. Sie können nur in einer präoperativen CT Diagnostik ausreichend dokumentiert werden.
Die tibiale Bohrkanalerweiterung nach VKB Ersatzplastik wird für die unterschiedlichen Implantate weiterhin untersucht. Die in dieser Studie angewendete Methode lässt sich auf andere Rekonstruktionstechniken und Implantate übertragen und dient als Grundlage für zukünftige Messungen des tibialen Bohrkanals.
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Der Verlauf des tibialen Bohrkanals nach Vorderer-Kreuzband-Ersatzplastik (VKB-Ersatzplastik) mit dem mittleren Drittel der Patellarsehne und Interferenz-Schrauben-Fixation zeigt im Standard-Röntgen charakteristische Formveränderungen, deren zeitlicher Verlauf bisher nicht detailliert erfasst wurde. Ebenso können aus den bisher vorliegenden Daten zur Morphologie – auch in anderen OP-Techniken zum Ersatz des VKB keine sicheren Rückschlüsse auf die tatsächliche räumliche Ausdehnung des Bohrkanals...
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